Mein Herbst 1989 – Eine Zeitzeugin berichtet

Irgendwas ist immer, irgendein Jahrestag, ein Jubiläum oder wie in diesem Jahr eben 20 Jahre Mauerfall. Ein gefundenes Fressen für die Medien überall Rückblicke zu senden, Zeitzeugen zu befragen und Resümees zu ziehen.  Ich schwanke zwischen Übersättigung und Nostalgie, denn auch ich bin eine Zeitzeugin.

Im Studium der Geschichte lernte ich in diversen didaktischen Seminaren, dass Zeitzeugen immer die interessantesten Geschichten zu erzählen haben, denn immerhin waren sie live dabei. Meist ist ihre Perspektive sehr subjektiv, denn im Moment des Erlebten, war das, was geschah noch keine Geschichte, sondern Alltagsleben. So erging es auch mir 1989 in Leipzig. Ich war 15 Jahre alt, ging in die 10. Klasse und war alle Nase lang in irgendeinen süßen Typen aus einer höheren Klasse verliebt – und ich schrieb Tagebuch. In der heutigen Dienstagskolumne möchte ich meinen ganz persönlichen Rückblick an den Herbst 1989 wagen.

6.Oktober 1989

„Jetzt ist doch an der Nikolaikirche jeden Montag Demo. Das ist Wahnsinn und am letzten Montag waren es 15.000 Mann. Ein Freund meines Onkels ist auch nach Prag gefahren und will in die Botschaft. Es werden immer mehr, die man kennt und die abhauen. … Heute war wieder Appell, rotes Gerede …“

Immerhin nahm ich was wahr von den Entwicklungen um mich herum, auch wenn in diesem Eintrag die Tatsache, dass ich mir den Pony geschnitten hatte und meine Oma ein Westpaket geschickte hatte, in den eine coole grüne Hose und Garfield-Aufkleber drin waren, weitaus ausführlicher beschrieben wurde.

10.Oktober 1989

„Gestern waren 70.000 Menschen bei der Demo und es war zum Glück keine Schießerei. Ein Freund hat erzählt, dass die MGs stationiert haben.“

Freitag der 13. Oktober

Die Physikarbeit war gut gelaufen und ich regte mich auf, dass mein Lehrer einen dummen Spruch gebracht hat.

„Gestern war ich an der Nikolaikirche, bloß angucken, die ist ja riesig groß. Wahnsinn. Draußen hängen ein Haufen Aufrufe und Blumen und Kerzen stehen dort und es ist alles voller Papierkraniche.“

Am gleichen Tag war ich zum 5. Mal in Dirty Dancing – ja, der Film kam erst ein Jahr später in der DDR an, aber bei einem Eintrittspreis von 50 Pfennigen für Schüler und einer Laufzeit von 14. Wochen oder mehr, fand sich schon die eine oder andere Gelegenheit ihn zu sehen. Große Freude meinerseits auch über die Tatsache, dass ich den Mambo-Grundschritt schon fast beherrsche.

30.Oktober – Montag – Demotag

„Heute waren wir in der Stadt. „Gorbi“, „Schnitzler in den Tagebau“, „Egon reiß die Mauer ein, sonst wirst du bald alleine sein.“ und so weiter, waren die Parolen. Demo ist toll. Man hat so gar keine Angst und das schockt irgendwie total.“

Der Rest des Eintrags ist einem süßen, schwarzhaarigen Typen gewidmet, der auf der Demo hinter mir stand und mich angrinste.

Interessanterweise wird die eigentliche Maueröffnung am 9. November mit keinem Wort erwähnt, ebenso nicht er erste Ausflug in den Westen, und schon gar nicht der erste eigene Walkman, die Digitaluhr oder die beeindruckende bunte Welt des KdW in Berlin. Vielleicht sind es ja doch die kleinen, scheinbar unwichtigen Dinge, die man aufschreiben sollte, damit man sich ihrer später erinnern kann. An vieles konnte ich mich erst wieder beim Lesen erinnern und über meine Prioritäten schmunzeln. Und wer weiß wie mein Leben gelaufen wäre, wenn ich bei dem Vorstellungsgespräch für eine Lehrstelle als Buchhändlerin einen besseren Eindruck gemacht hätte.

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